IMPRESSUM

Betreuungsrecht: Unbeachtlichkeit einer Betreuungsverfügung wegen psychischer Erkrankung des Verfassers

Landgericht Bochum, 19.01.2010, Az.: 7 T 558/09

Sachverhalt: Der Betroffene leidet an einer paranoiden Schizophrenie, die im Laufe des Jahres 2009 zunehmend exazerbiert ist. Die Eltern des Betroffenen sind in X ansässig. Im Verlauf des Jahres 2009 hielt sich der Betroffene zeitweise im elterlichen Haushalt auf. Zwischen dem Betroffenen und seinen Eltern bestehen entgegengesetzte Auffassungen zur gesundheitlichen Situation des Betroffenen. Während der Betroffene davon ausgeht, nicht an einer psychischen Erkrankung zu leiden, halten seine Eltern den Betroffenen für psychisch erkrankt und deshalb dringend ärztliche Hilfe sowie Hilfe durch einen Betreuer für erforderlich.

Im Jahr 2000 nahm der Betroffene ein Studium auf, wechselte in den folgenden Jahren mehrfach den Studienort, erzielte jedoch keinen Abschluss. Im Oktober 2008 nahm der Betroffene ein Studium der Staatswissenschaften in F auf. Nachdem die Eltern des Betroffenen sich im Januar 2009 an den Sozialpsychiatrischen Dienst in Erfurt gewandt hatten, lehnte der Betroffene jeglichen Kontakt mit seinen Eltern ab. Am 05.03.2009 erschien der Betroffene mit einem Messer und Reizgas ausgestattet in einer N-Filiale in F und verhielt sich dort auffällig, so dass die Polizei verständigt wurde und der Betroffene der Abteilung für Psychiatrie des I-Klinikums in F zugeführt wurde. Dort verblieb er bis zum 30.03.2009 in stationärer psychiatrischer Behandlung.

Am 15.07.2009 unterzeichnete der Betroffene eine mit “Patientenverfügung (gemäß § 1901 a BGB)” bezeichnete Erklärung, wegen deren Einzelheiten auf Bl. 76, 76 R GA Bezug genommen wird.

Auf Anregung der Eltern, in deren Haushalt der Betroffene sich seit Oktober 2009 wiederum aufhielt, wurde das vorliegende Betreuungsverfahren eingeleitet. Am 04.11.2009 suchte der Betroffene die Notaufnahme des N-Hospitals X auf und führte dabei ein Messer mit einer 50 cm langen Klinge bei sich. Wegen der vom Betroffenen gezeigten Aggressivität erfolgte ein Polizeieinsatz und der Betroffene wurde nach PsychKG im Gemeinschaftskrankenhaus I1 untergebracht. Mit Beschluss des Amtsgerichts Wetter wurde die Unterbringung nach PsychKG bis zum 09.12.2009 angeordnet. Die zuständige Richterin des Betreuungsgerichts hörte den Betroffenen im Gemeinschaftskrankenhaus I1 am 05.11.2009 persönlich an. Wegen des Anhörungsergebnisses wird auf die Sitzungsniederschrift (Bl. 15 GA) Bezug genommen. Mit dem angefochtenen Beschluss bestellte das Amtsgericht Witten den Beteiligten zu 2. im Wege der einstweiligen Anordnung als Betreuer für den Betroffenen mit den Aufgabenkreisen Vermögensangelegenheiten, Aufenthaltsbestimmungsrecht, Entscheidung über die Unterbringung, Gesundheitsfürsorge, Vertretung gegenüber Behörden und Versicherungen sowie Kranken- und Pflegekassen sowie Wohnungsangelegenheiten.

Mit Anwaltsschriftsatz des seinerzeitigen Verfahrenspflegers vom 13.11.2009 erhob der Betroffene gegen den Betreuungsbeschluss Beschwerde. Die Beschwerde ging am 13.11.2009 beim Amtsgericht Witten ein. Zur Begründung hat der Betroffene ausgeführt, er könne sich allein eine Wohnung bzw. einen Beruf suchen. In der stationären Behandlung gehe es ihm zunehmend schlechter. Über den damals bestellten Verfahrenspfleger gelangte die Erklärung vom 15.07.2009 zu den Akten, und zwar mit Schreiben vom 19.11.2009. Der Beteiligte zu 3. reichte die Erklärung mit Anschreiben vom 23.11.2009 nochmals zu den Akten.

Der Beteiligte zu 3. wandte sich mit Schreiben vom 30.11.2009 an den ärztlichen Leiter der psychiatrischen Abteilung des Gemeinschaftskrankenhauses I1 mit der Aufforderung, den Betroffenen sofort auf eine offene Station zu verlegen und seine Freizügigkeit nicht mehr einzuschränken sowie dem Betroffenen nur noch mit dessen ausdrücklichem Einverständnis Medikamente zu verabreichen. Mit Schreiben vom 09.12.2009 führte der Beteiligte zu 3. ergänzend aus, angesichts der Erklärung vom 15.07.2009 dürfte gegen den Willen des Betroffenen weder eine Unterbringung durchgeführt noch eine Betreuung eingerichtet werden. Die Patientenverfügung sei vollumfänglich wirksam. Deren Nichtbeachtung verstoße insbesondere gegen die UN-Behindertenrechtskonvention.

Zur Begründung der Beschwerde hat der Betroffene mit Anwaltsschriftsatz weiter ausgeführt, er sei zur freien Willensbildung und Willensbestimmung zur Frage der Notwendigkeit einer Betreuung uneingeschränkt in der Lage, so dass die Einrichtung der Betreuung bereits gegen § 1896 Abs. 1 a BGB verstoße. Im Übrigen stehe gemäß § 1901 a BGB die Patientenverfügung vom 15.07.2009 der Bestellung eines Betreuers entgegen. Die Beachtlichkeit dieser Erklärung setze nicht die Geschäftsfähigkeit des Betroffenen voraus, sondern lediglich dessen natürliche Einsichtsfähigkeit.

Während des stationären Aufenthalts hat der Betroffene die verordneten Medikamente heimlich nicht eingenommen und die Einrichtung nach Aufhebung der Unterbringungsgenehmigung durch Beschluss der Kammer vom 14.12.2009 verlassen. Die nur für die Zeit des Krankenhausaufenthalts bewilligten Sozialleistungen liefen mit Wirkung vom 17.12.2009 aus. Am 21.12.2009 verließ der Betroffene den elterlichen Haushalt mit zunächst unbekanntem Ziel. Der Betroffene ist derzeit im Bezirk C ansässig.

Die Einzelrichterin der Kammer hat den Betroffenen sowie den damals bestellten Verfahrenspfleger am 01.12.2009 persönlich angehört sowie ein ärztliches Zeugnis des Psychiaters Dr. N1, Gemeinschaftskrankenhaus I1, eingeholt. Wegen des Anhörungs- und Ermittlungsergebnisses wird auf den Vermerk vom 01.12.2009 (Bl. 51 ff. GA) Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird ergänzend auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Landgericht Bochum: Die Beschwerde des Betroffenen ist gemäß §§ 58 Abs. 1, 59 Abs. 1, 63 Abs. 2 Nr. 1 FamFG statthaft und auch im Übrigen zulässig. Die Beschwerde gegen den Betreuungsbeschluss vom 05.11.2009 ging am 13.11.2009 beim Amtsgericht Witten ein (§ 64 FamFG).

Die Beschwerde des Betroffenen ist jedoch in der Sache im Wesentlichen unbegründet. Das Amtsgericht hat die vorläufige Betreuung zu Recht eingerichtet. Lediglich für den Aufgabenkreis Wohnungsangelegenheiten ist die Betreuung aufzuheben, da insoweit Handlungsbedarf nicht mehr feststellbar ist.

Rechtsgrundlage für die eingerichtete vorläufige Betreuung sind § 1896 BGB, § 300 Abs. 1 S. 1 FamFG. Es sind dringende Gründe für die Annahme gegeben, dass der Betroffene aufgrund seiner psychischen Krankheit seine Angelegenheiten nicht selbst besorgen kann und deshalb die Voraussetzungen für die Bestellung eines Betreuers gegeben sind. Des Weiteren bestand und besteht weiterhin ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden.

Der Betroffene leidet an einer paranoiden Schizophrenie, die sich im Laufe des Jahres 2009 wiederholt verschlechtert hat. Es bestehen des Weiteren dringende Gründe für die Annahme, dass die freie Willensbildung und Willensbestimmung des Betroffenen krankheitsbedingt hinsichtlich der von der Betreuung erfassten Aufgabenkreise aufgehoben ist. Entgegen den entsprechenden Ausführungen in der Beschwerde ergibt sich dies aus dem ärztlichen Zeugnis des Psychiaters Dr. N1. Insoweit wird auf die Sitzungsniederschrift des Amtsgerichts vom 05.11.2009 sowie den Vermerk der Einzelrichterin der Kammer vom 01.12.2009 Bezug genommen. Dr. N1 hat ausgeführt, dass der Betroffene unter einer psychotischen Akutsituation u. a. mit hochgradiger Anspannung litt und die Vorstellung hatte, aus der Zimmerdecke im Krankenhaus ströme Gas aus, jemand verfolge ihn und wolle ihn umbringen. Auch nach der Verabreichung von Medikamenten habe der Betroffene weiterhin unter Vergiftungsideen gelitten. Der behandelnde Psychiater Dr. N1 hat des weiteren ausgeführt, durch die Erkrankung sei die Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit des Betroffenen erheblich beeinträchtigt. Er benötige in sämtlichen Aufgabenkreisen der Betreuung Unterstützung. Zwar war in der persönlichen Anhörung am 01.12.2009 ein geordnetes Gespräch mit dem Betroffenen durchaus möglich. Der Psychiater hat die zu Beginn des stationären Aufenthalts vorhandene psychotische Symptomatik jedoch ausführlich geschildert. Der Betroffene hat auch eingeräumt, an einer akuten Psychose gelitten zu haben und auch die Situationen, die zu den stationären Aufenthalten geführt haben, als sehr belastend empfunden zu haben. Im Gegensatz zu seinen Angaben in der Anhörung am 01.12.2009 hat er die Medikation jedoch heimlich nicht eingenommen, wie eine Blutuntersuchung zum Abschluss der stationären Behandlung ergeben hatte. Die vom Betroffenen abgegebene Freiwilligkeitserklärung hat sich im Nachhinein als eindeutig nicht tragfähig erwiesen.

Des Weiteren bestehen dringende Gründe für die Annahme, dass der Betroffene seine Angelegenheiten auch in den übrigen Aufgabenkreisen nicht wahrnehmen kann. Bei Einrichtung der Betreuung hatte der Betroffene keine Einkünfte und war nicht krankenversichert. Die Sozialleistungen sind mit Wirkung vom 17.12.2009 weggefallen. Vor diesem Hintergrund bestehen dringende Gründe für die Annahme konkreten Betreuungsbedarfs in den von der Betreuung erfassten Aufgabenkreisen, abgesehen vom Aufgabenkreis der Wohnungsangelegenheiten. Aus der Art des Betreuungsbedarfs folgt, dass insoweit ein dringendes Bedürfnis für ein erneutes sofortiges Tätigwerden eines in C ansässigen Betreuers besteht. Selbst wenn sich der Betroffene in C in ärztliche Behandlung begeben haben sollte, kann insoweit wegen der Ambivalenz des Betroffenen noch nicht von einer ausreichenden nachhaltigen Stabilisierung seiner gesundheitlichen Situation ausgegangen werden. Angesichts dessen ist absehbar, dass wiederum Zwangsmaßnahmen erforderlich werden können.

Die mit der Patientenverfügung verbundene Vorsorgevollmacht vom 15.07.2009 steht der Einrichtung der Betreuung nicht entgegen. Hierbei kann im Ergebnis dahinstehen, ob die Vollmacht wirksam erteilt wurde. Die Bestellung eines Berufsbetreuers trotz bestehender Vorsorgevollmacht ist möglich, wenn die Wahrnehmung der Interessen des Betroffenen durch den Bevollmächtigten dem Wohl des Betroffenen klar zuwiderläuft, so dass eine konkrete Gefahr für das Wohl des Betroffenen begründet wird (KG, FGPrax 2006, 182 ff.). Hiervon ist derzeit jedenfalls für das vorliegende Verfahren auszugehen. Der Beteiligte zu 3. als in der Erklärung vom 15.07.2009 benannter Vorsorgebevollmächtigter hat die Belange des Betroffenen nämlich nicht wahrgenommen. Trotz Vorliegens einer akuten Verschlechterung der Erkrankung des Betroffenen hat er nicht dafür gesorgt, dass dem Betroffenen ärztliche Diagnostik bzw. Behandlung zugute kommt. Ebenso wenig hat der Beteiligte zu 3. zur Sicherung des grundlegenden Lebensbedarfs des Betroffenen beigetragen. Bei Einrichtung der Betreuung hatte der Betroffene kein Einkommen und war nicht krankenversichert. Die Ausführungen des Beteiligten zu 3. in seinen schriftlichen Eingaben zeigen, dass er entgegen den tatsächlichen Gegebenheiten davon ausgeht, dass der Betroffene keine Hilfe braucht und dass jegliche Aktivität seinerseits das Einvernehmen des Betroffenen voraussetzt. Letztlich geht der Beteiligte zu 3. mit dem Betroffenen – wiederum entgegen den tatsächlichen Gegebenheiten – davon aus, dass der Betroffene nicht an einer psychischen Erkrankung leidet. Hierzu ist er nach Buchstabe D der Erklärung vom 15.07.2009 auch gehalten.

Von einem in der Erklärung vom 15.07.2009 enthaltenen bewussten Verzicht des Betroffenen auf Berücksichtigung seines objektiven Wohls, der staatliche Fürsorge durch Einrichtung einer Betreuung verhindern würde, ist nicht auszugehen. Es bestehen dringende Gründe für die Annahme, dass der Betroffene zu der für einen solchen bewussten Verzicht erforderlichen eigenständigen Willensbildung nicht in der Lage war. Die §§ 1896 Abs. 2 und 1901 a BGB in seiner Gesamtheit setzen nämlich Folgendes voraus: Die Fähigkeit zur eigenständigen Willensbildung, d. h. die Fähigkeit, unbeeinflusst von einer psychischen Krankheit eine freie Entscheidung aufgrund einer Abwägung des Für und Wider nach sachlichen Gesichtspunkten zu treffen. Hierbei handelt es sich um den Wesenskern der natürlichen Einsichtsfähigkeit (vgl. Palandt-Diederichsen, BGB, 69. Aufl., Rn. 8 zu § 1904 sowie Palandt-Sprau, a.a.O., Rn. 151 b zu § 823; Lange/Schmidtbauer in Juris PK, BGB, 4. Aufl., Rn. 61 zu § 823 sowie Rn. 12 ff. zu § 104). Der Betroffene leidet an einer schweren psychischen Erkrankung, die im Jahr 2009 nicht nachhaltig behandelt worden ist und stand wiederholt unter dem Einfluss einer akuten psychotischen Symptomatik. Die Erklärung von Juli 2009 zeigt, dass dem Betroffenen die Krankheitseinsicht vollständig fehlt. Eine derartige Einsicht wäre jedoch Voraussetzung für die erforderliche sachliche Abwägung der Risiken eines Verzichts auf ärztliche und administrative Hilfe. Der behandelnde Psychiater hat ausgeführt, welche Gefahren bei Unterlassen der Behandlung einer Psychose drohen.

Schließlich verstößt die Einrichtung der Betreuung auch nicht gegen die UN-Behindertenrechtskonvention. Das materielle Betreuungsrecht nach §§ 1896 ff. BGB sowie das FamFG als Verfahrensordnung tragen den zitierten Grundsätzen der Behindertenrechtskonvention Rechnung. Jeder Betreute bzw. von einem Betreuungsverfahren Betroffene wird von den genannten rechtlichen Regelungen zweifelsfrei als Rechtssubjekt behandelt, insbesondere, indem § 275 FamFG den genannten Personenkreis ohne Rücksicht auf Geschäftsfähigkeit als verfahrensfähig behandelt.

Eine Aufhebung der vorläufigen Betreuung kommt deshalb nicht in Betracht, so dass die Beschwerde mit der aus dem Tenor ersichtlichen Maßgabe zurückzuweisen war. Es ist davon auszugehen, dass ein im Bezirk C zu bestellender neuer Betreuer den oben beschriebenen Handlungsbedarf des Betroffenen wahrnehmen und das zuständige Amtsgericht die Erforderlichkeit der Einrichtung einer dauerhaften Betreuung prüfen kann.

Eine Kostenentscheidung, insbesondere gemäß § 307 FamFG, ist nicht veranlasst. Die Festsetzung des Beschwerdewerts ist bereits mit Beschluss der Kammer vom 29.12.2009 erfolgt.

Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 70 Abs. 4 FamFG nicht statthaft.

Quelle: Landgericht Bochum