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Betreuungsrecht: Die Bestellung des Verfahrenspflegers im Betreuungsverfahren

Bundesgerichtshof, 04.08.2010, Az.: XII ZB 167/10

Sachverhalt: Für den Betroffenen besteht seit vielen Jahren eine Betreuung. Er leidet u.a. an Schizophrenie und Demenz.

Das Amtsgericht bestellte im August 2005 die weitere Beteiligte in den Aufgabenkreisen Gesundheitsfürsorge und allen Vermögensangelegenheiten bis zum August 2012 zur Betreuerin. Nachdem der Betroffene mehr als 26 Jahre in stationärer Heimunterbringung gelebt hatte, wurde er 2007 in eine eigene Wohnung in der Nähe des Heims entlassen. Im Dezember 2009 wurde der Betroffene in ein Krankenhaus eingeliefert, nachdem er in seiner Wohnung gestürzt und in hilfloser Lage aufgefunden worden war.

Sowohl das Krankenhaus als auch die Betreuerin haben eine Erweiterung der Betreuung um die Aufgabenkreise Aufenthaltsbestimmung und Wohnungsangelegenheiten angeregt. Der Betroffene, der sich seit seiner Entlassung aus dem Krankenhaus wieder im Heim befindet, will in seine Wohnung zurückkehren.

Das Amtsgericht hat die Betreuung um die Aufgabenkreise Aufenthaltsbestimmung und Wohnungsangelegenheiten erweitert und eine Überprüfungsfrist bis zum 8. Februar 2017 festgelegt. Die dagegen vom Betroffenen persönlich eingelegte Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Einen Verfahrenspfleger hat weder das Amtsgericht noch das Landgericht bestellt.

Mit seiner Rechtsbeschwerde erstrebt der Betroffene die Aufhebung der Betreuung, hilfsweise die Sache zur Bestellung eines Verfahrenspflegers und erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen.

Bundesgerichtshof: Die Rechtsbeschwerde ist nach Art. 111 Abs. 1 Satz 2 FGG-RG, § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FamFG statthaft und auch sonst zulässig. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.

1. Das Landgericht hat seine Entscheidung auf ein Sachverständigen-Gutachten aus dem Jahr 2005, einen Bericht der Krankenhausärztin vom Dezember 2009 sowie einen Bericht der Betreuerin gestützt, nach dem sich der Gesundheitszustand des Betroffenen seit Herbst 2008 stetig verschlechtert hat. Von einer erneuten Anhörung des Betroffenen hat es abgesehen, weil dieser erst einen Monat zuvor vom Amtsgericht ausführlich angehört worden sei. Die Bestellung eines Verfahrenspflegers sei nicht erforderlich gewesen, weil der Betroffene seine Rechte selbst wahrgenommen habe und es sich im Übrigen auch nur um eine unwesentliche Erweiterung der Aufgabenkreise des Betreuers handele.

2. Das hält einer Überprüfung nicht stand. Die Nichtbestellung des Verfahrenspflegers ist vom Landgericht nicht ausreichend begründet worden und ist demnach verfahrensfehlerhaft.

a) Nach § 276 Abs. 1 FamFG hat das Gericht dem Betroffenen einen Verfahrenspfleger zu bestellen, wenn dies zur Wahrnehmung der Interessen des Betroffenen erforderlich ist. Nach § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG ist die Bestellung in der Regel erforderlich, wenn Gegenstand des Verfahrens die Bestellung eines Betreuers zur Besorgung aller Angelegenheiten des Betroffenen oder die Erweiterung des Aufgabenkreises hierauf ist. Nach § 276 Abs. 2 Satz 1 FamFG kann von der Bestellung in den Fällen des Absatzes 1 Satz 2 abgesehen werden, wenn ein Interesse des Betroffenen an der Bestellung des Verfahrenspflegers offensichtlich nicht besteht. Nach § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG ist die Nichtbestellung zu begründen.

Der Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht unterliegt es, ob die den Tatsacheninstanzen obliegende Entscheidung ermessensfehlerfrei getroffen worden ist. Dem genügt die angefochtene Entscheidung nicht.

aa) Die Rechtsbeschwerde beruft sich darauf, dass die Betreuung nach der Erweiterung um die Aufgabenkreise Aufenthaltsbestimmung und Wohnungsangelegenheiten im Ergebnis alle Angelegenheiten im Sinne von § 276 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 FamFG umfasse. Dem ist insoweit zu folgen, als dass jedenfalls der Verfahrensgegenstand eine umfassende Betreuung in diesem Sinne als möglich erscheinen lässt und schon von daher die Bestellung eines Verfahrenspflegers in der Regel erforderlich ist.

Dass die Anwendung der genannten Bestimmung nicht daran scheitert, dass dem Betroffenen einzelne Befugnisse verbleiben sollen, zeigt sich daran, dass sie auch dann ausdrücklich anwendbar ist, wenn die Gegenstände der Verfahren nach § 1896 Abs. 4 BGB (Fernmeldeverkehr und Post) sowie § 1905 BGB (Sterilisation) nicht von der Betreuung umfasst werden. Auch dass die Bestellung sich wörtlich auf alle Angelegenheiten bezieht, ist für die Verfahrenspflegerbestellung nach § 276 FamFG nicht erforderlich (zur anders gelagerten Frage des Wahlrechtsausschlusses – etwa gemäß § 13 BWahlG – vgl. LG Zweibrücken BtPrax 1999, 244; VG Saarland BtPrax 2009, 254). Das gilt schon deswegen, weil für den verfahrensrechtlichen Schutz des Betroffenen nicht darauf abzustellen ist, welche Maßnahme vom Gericht schließlich getroffen wird, sondern auf den Umfang des Verfahrensgegenstands (Prütting/Helms/Fröschle FamFG § 276 Rdn. 37 m.w.N.). Des weiteren kann sich eine Betreuung für alle Angelegenheiten aber auch – insbesondere bei einer sukzessiven Erweiterung der Aufgabenkreise – aus einer Zusammenschau mehrerer gerichtlicher Maßnahmen ergeben.

Unter Beachtung des Schutzzwecks des § 276 FamFG ist demnach vielmehr entscheidend, dass der Verfahrensgegenstand die Anordnung einer umfassenden Betreuung als möglich erscheinen lässt. Auf die das Verfahren auslösenden Anregungen an das Gericht und ihren Umfang kommt es nicht an, weil diese den Verfahrensgegenstand nicht beschränken. Für einen umfassenden Verfahrensgegenstand spricht vielmehr, dass die schließlich von der Betreuung erfassten Aufgabenkreise in ihrer Gesamtheit im Einzelfall alle wesentlichen Bereiche der Lebensgestaltung des Betroffenen umfassen und somit in die Zuständigkeit des Betreuers fallen. Wenn dem Betroffenen nach der Entscheidung letztlich auch einzelne restliche Bereiche zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung verblieben sind, entbindet dies jedenfalls dann nicht von der Bestellung des Verfahrenspflegers, wenn die verbliebenen Befugnisse dem Betroffenen in seiner konkreten Lebenssituation keinen nennenswerten eigenverantwortlichen Handlungsspielraum mehr belassen.

Nach diesen Grundsätzen ist im vorliegenden Fall das Regelbeispiel des § 276 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 FamFG erfüllt. Die schließlich angeordnete Betreuung umfasst sämtliche Vermögensangelegenheiten, die Gesundheitsfürsorge, die Aufenthaltsbestimmung und die Wohnungsangelegenheiten. Daraus ergibt sich, dass die Betreuerin in allen wesentlichen Bereichen maßgeblichen Einfluss auf die Lebensgestaltung des Betroffenen hat und sich damit jedenfalls der Verfahrensgegenstand auf alle Angelegenheiten im Sinne des § 276 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 FamFG bezieht.

bb) Gleichwohl kann nach § 276 Abs. 2 Satz 1 FamFG unter den oben aufgeführten Voraussetzungen im Einzelfall von der Bestellung eines Verfahrenspflegers abgesehen werden. Eine Verfahrenspflegschaft ist nach den Vorstellungen des Gesetzgebers, die der mit § 276 Abs. 2 Satz 1 FamFG übereinstimmenden Vorschrift des § 67 Abs. 1 Satz 3 FGG (a.F.) zugrunde lagen, (nur) dann nicht anzuordnen, wenn die Verfahrenspflegerbestellung “einen rein formalen Charakter hätte” (BT-Drucks. 13/7158 S. 36; vgl. Keidel/Kayser Freiwillige Gerichtsbarkeit 15. Aufl. § 67 Rdn. 12).

Ob es sich hier um einen Ausnahmefall im Sinne dieser Umschreibung handelt, ist aufgrund der nach § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG vorgeschriebenen Begründung zu beurteilen. Die Begründung des angefochtenen Beschlusses ist indessen – wie die Rechtsbeschwerde mit Recht geltend macht – unzureichend. Dass der vor dem Landgericht nicht anwaltlich vertretene Betroffene seine Interessen habe selbständig wahrnehmen können, erscheint aufgrund des bei ihm vorliegenden Krankheitsbilds und seiner mangelnden Krankheitseinsicht fernliegend. Dass es sich nur um eine unwesentliche Erweiterung der Aufgabenkreise des Betreuers handele, entbehrt schon in Anbetracht der zentralen Bedeutung des Aufenthaltsbestimmungsrechts der Grundlage. Demnach genügt die Begründung des Landgerichts nicht den Anforderungen des § 276 Abs. 2 FamFG und trägt die unterbliebene Bestellung eines Verfahrenspflegers nicht.

b) Die Entscheidung des Landgerichts beruht auf der Nichtbestellung des Verfahrenspflegers (vgl. § 74 Abs. 2 FamFG). Denn es lässt sich nicht ausschließen, dass das Landgericht nach Hinzuziehung eines Verfahrenspflegers aufgrund dessen Stellungnahme zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre.

3. Das Landgericht hat nach Zurückverweisung der Sache erneut die Bestellung eines Verfahrenspflegers zu überprüfen und ggf. nach dessen Stellungnahme erneut zu entscheiden.

Quelle: Bundesgerichtshof